
Die Extraktion (Entfernung) eines Zahnes gehört zu den häufigsten chirurgischen Eingriffen in der Zahnarztpraxis. Obwohl oft als Routine betrachtet, erfordert jede Extraktion sorgfältige Planung, präzise Technik und Kenntnis potenzieller Risiken, um Komplikationen zu vermeiden und eine optimale Wundheilung zu gewährleisten. Dieser Artikel beleuchtet häufige Fehler, gibt eine Schritt-für-Schritt-Anleitung und geht auf Besonderheiten sowie die Abrechnung ein.
Präoperative Diagnostik & Planung
Eine erfolgreiche Extraktion beginnt vor dem Eingriff:
- Anamnese: Erhebung der allgemeinen und speziellen medizinischen Vorgeschichte (Blutgerinnungsstörungen, Medikamente wie Antikoagulantien/Bisphosphonate, Diabetes, Herzerkrankungen, Bestrahlungen im Kopf-Hals-Bereich etc.).
- Klinische Untersuchung: Beurteilung des Zahnes (Mobilität, Zerstörungsgrad, Karies), der umgebenden Gingiva und des Knochens.
- Röntgenologische Untersuchung: Standard ist eine intraorale Aufnahme (Zahnfilm) zur Beurteilung von Wurzelform, -anzahl, -krümmung, Beziehung zu Nachbarstrukturen und periapikalen Zustand. Bei Verdacht auf enge Lagebeziehung zu Risikostrukturen (N. alveolaris inferior [IAN], Kieferhöhle), insbesondere bei Weisheitszähnen oder retinierten Zähnen, ist eine Digitale Volumentomographie (DVT/CBCT) zur exakten dreidimensionalen Darstellung indiziert.
- Aufklärung & Einwilligung: Umfassende Aufklärung des Patienten über Notwendigkeit, Ablauf, Risiken (Schmerzen, Schwellung, Blutung, Infektion, MAV, Nervenschäden, Schädigung Nachbarzähne etc.), Alternativen und Verhalten nach dem Eingriff. Einholung der schriftlichen Einwilligung.
Häufige Fehler und Risiken bei Zahnextraktionen
- Unzureichende Diagnostik: Übersehen von Wurzelkrümmungen, Nähe zu Nerven/Kieferhöhle, Ankylose.
- Unzureichende Anästhesie: Schmerzen für den Patienten, Stress für den Behandler, erschwerte Kooperation.
- Falsche Instrumentenwahl/Anwendung: Falsche Zange/Hebel, Abrutschen, übermäßige Kraft, falsche Bewegungsrichtung.
- Fraktur der Zahnkrone/Wurzel: Durch zu viel Kraft, falsche Technik oder spröde Zahnsubstanz. Erfordert oft weitergehende chirurgische Maßnahmen (Osteotomie).
- Fraktur des Alveolarknochens/Tubers: Durch übermäßige oder falsch angesetzte Hebel-/Zangenkräfte.
- Verletzung von Nachbarzähnen: Lockerung, Fraktur, Füllungsverlust durch unkontrollierte Instrumentenführung.
- Verletzung von Weichgeweben: Risswunden durch Abrutschen von Instrumenten.
- Verletzung von Nerven: V.a. N. alveolaris inferior, N. lingualis, N. mentalis. Kann zu temporärer oder permanenter Taubheit/Missempfindung führen.
- Eröffnung der Kieferhöhle (Mund-Antrum-Verbindung, MAV): Bei Extraktion von Oberkiefer-Seitenzähnen.
- Blutung/Nachblutung: Unzureichende Kompression, verbleibendes Granulationsgewebe, Gerinnungsstörung.
- Wundinfektion / Alveolitis sicca („Dry Socket“): Schmerzhafte Entzündung der Alveole, oft durch Verlust des Blutkoagulums.
- Unvollständige Extraktion: Belassene Wurzelreste oder Fragmente können zu chronischen Entzündungen führen.
Schritt-für-Schritt: Die Extraktionstechnik (Beispiel einfache Extraktion)
- Anästhesie: Adäquate lokale Betäubung (Infiltrations- oder Leitungsanästhesie). Ausreichende Einwirkzeit abwarten.
- Syndesmotomie (optional): Vorsichtiges Durchtrennen der supraalveolären Fasern mit einem spitzen Instrument (z.B. feiner Hebel, Skalpell). Kann die initiale Lockerung erleichtern.
- Luxation: Systematisches Lockern des Zahnes im Knochenfach mit geeigneten Hebeln (z.B. Bein’scher Hebel, Luxatoren). Die Kraft wird kontrolliert zwischen Zahnwurzel und Alveolenwand appliziert, um das parodontale Ligament zu zerreißen und die Alveole zu erweitern. Dabei Knochen als Widerlager nutzen, Nachbarzähne schonen.
- Extraktion mit der Zange: Sobald der Zahn ausreichend gelockert ist, wird er mit der passenden Extraktionszange möglichst weit apikal am Zahnhals/Wurzel gefasst. Mit langsamen, kontrollierten Kipp- (bukkal-lingual/palatinal) und/oder Rotationsbewegungen (bei einwurzeligen Zähnen mit rundem Querschnitt) wird der Zahn weiter gelockert und schließlich aus der Alveole gehoben. Zug nur in Richtung der Lockerung!
- Wundversorgung:
- Kürettage: Inspektion der Alveole, vorsichtige Entfernung von Granulationsgewebe oder Zystenresten mit scharfem Löffel.
- Knochenkanten glätten: Scharfe Knochensepten oder -ränder können mit einer Knochenzange oder Luerzange abgetragen und geglättet werden (Alveolotomie/Knochenglättung, BEMA 36).
- Wurzelinspektion: Den extrahierten Zahn auf Vollständigkeit prüfen (Wurzelspitze intakt?).
- MAV-Kontrolle (bei OK-Seitenzähnen): Primär durch visuelle Inspektion und vorsichtiges Sondieren der Alveole. Nur bei begründetem Verdacht und unklarem Befund vorsichtiger Nasenblasversuch (Valsalva) durch den Patienten bei zugehaltener Nase. Austretende Luft/Blutblasen bestätigen eine MAV.
- MAV-Verschluss (falls positiv): Sofortiger plastischer Deckungsverschluss (z.B. Rehrmann-, Wassmund-Lappenplastik, BEMA 50 / GOZ 3090). Zusätzlich systemische Antibiose, abschwellende Nasentropfen/-sprays und Verhaltensmaßregeln (Schneuzverbot für ca. 14 Tage).
- Kompression & Blutstillung: Aufbiss auf einen sterilen Tupfer für ca. 15-30 Minuten. Ggf. Einlage blutstillender Medikamente/Kollagenkegel.
- Naht (optional): Bei stark zerklüfteten Wundrändern, nach Lappenbildung (MAV-Verschluss, Osteotomie) oder zur besseren Adaptation (BEMA 38 / GOZ 2381/2).
- Postoperative Instruktionen & Nachsorge: Patient über Verhalten aufklären (Kühlen, weiche Kost, Mundhygiene, Rauchverbot, körperliche Schonung), Schmerzmedikation empfehlen/verschreiben, Kontrolltermin vereinbaren.
Besonderheiten bei verschiedenen Zähnen
- Weisheitszähne: Hohes Risiko für Retention/Verlagerung, Nervnähe (IAN, N. lingualis), Kieferhöhlennähe (OK). Oft ist eine operative Entfernung (Osteotomie) mit Lappenbildung, Knochenabtragung und ggf. Zahnteilung nötig (BEMA 47a/b, 48 / GOZ 3030, 3040, 3045). DVT zur Planung oft indiziert.
- Oberkiefer-Molaren: MAV-Risiko beachten! Mehrwurzelig, oft Teilung der Wurzeln (Hemisektion/Prämolarisierung) vor der Extraktion der Einzelwurzeln sinnvoll.
- Unterkiefer-Molaren: Nervnähe (IAN) beachten. Starke Knochenstruktur, oft Teilung notwendig.
- Frontzähne: Ästhetik! Möglichst schonende Extraktion zur Erhaltung der bukkalen Knochenlamelle (wichtig für spätere Implantate/Brücken). Rotation bei rundem Querschnitt oft möglich.
- Milchzähne: Wurzeln oft gespreizt und fragil, Nähe zum Keim des bleibenden Zahnes beachten! Vorsichtige Luxation, ggf. Teilung.
Postoperative Komplikationen (Kurzüberblick)
- Nachblutung: Druckverband (erneut auf Tupfer beißen), ggf. Umstechung, Koagulationsmittel. Ursache klären (lokal/systemisch).
- Alveolitis sicca (Dry Socket): Starke Schmerzen 2-4 Tage post-OP, leere, übelriechende Alveole. Therapie: Spülung, medikamentöse Einlage (z.B. mit Eugenol), Analgesie.
- Wundinfektion: Schwellung, Rötung, Eiter, Schmerzen, ggf. Fieber. Therapie: Inzision/Drainage, Spülung, systemische Antibiose.
- Nervenschäden: Parästhesie, Dysästhesie, Anästhesie. Diagnostik, ggf. hochdosierte Vitamine, physikalische Therapie, Geduld (Regeneration kann Monate dauern), ggf. Überweisung an Spezialisten.
Abrechnung (BEMA & GOZ – Beispiele)
- Einfache Extraktion: BEMA 43 (X1), GOZ 3000
- Extraktion mit Lappenbildung: BEMA 46 (XN), GOZ 3010
- Tieffrakturierte Extraktion: BEMA 45 (X3), GOZ 3020
- Osteotomie: BEMA 47a/b, 48; GOZ 3030, 3040, 3045
- MAV-Verschluss: BEMA 50, GOZ 3090
- Knochenglättung: BEMA 36
- Naht: BEMA 38, GOZ 2381/2382
Begleitleistungen (Anästhesie, Röntgen, Beratung etc.) kommen hinzu.
Fazit
Obwohl ein Routineeingriff, erfordert die Zahnextraktion chirurgisches Geschick, anatomische Kenntnisse und vorausschauende Planung. Die Beherrschung der korrekten Technik, die Antizipation möglicher Komplikationen und die Anpassung an individuelle Gegebenheiten (Weisheitszähne, MAV-Risiko etc.) sind entscheidend für den Erfolg und die Patientensicherheit. Eine sorgfältige Diagnostik und eine gute Nachsorge runden den Eingriff ab.
Quellen:
- Standardwerke der Zahnärztlichen Chirurgie: z.B. Schwenzer/Ehrenfeld, Hausamen/Machtens/Reiche-Fischel, Hupp/Ellis/Tucker. (Die im Original genannten sind gute Beispiele).
- S3-Leitlinie „Operative Entfernung von Weisheitszähnen“: (Verfügbar über AWMF-Portal)
- Leitlinien/Stellungnahmen zur Mund-Antrum-Verbindung: (z.B. von DGMKG/DGZMK)
- Bewertungsmaßstab zahnärztlicher Leistungen (BEMA): (Verfügbar über KZBV)
- Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ): (Verfügbar über BZÄK)
- Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) / Bundeszahnärztekammer (BZÄK): Informationen zur Abrechnung.
- Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK): (https://www.dgzmk.de/)
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