
Zahnschmerzen sind einer der häufigsten Gründe für einen Besuch in der Zahnarztpraxis und können die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Die Ursachen sind vielfältig, und die subjektive Wahrnehmung des Schmerzes variiert stark. Eine systematische und sorgfältige Schmerzdiagnostik ist daher entscheidend, um die korrekte Ursache zu identifizieren und eine erfolgreiche, zielgerichtete Therapie einzuleiten. Dieser Leitfaden richtet sich an Zahnärzte und Studierende und beschreibt die wesentlichen Schritte.
Die Herausforderung: Subjektivität & vielfältige Ursachen
Schmerz ist immer subjektiv. Die Beschreibung durch den Patienten ist ein wichtiger Puzzlestein, muss aber durch objektive Befunde ergänzt werden. Zudem können Schmerzen ausstrahlen oder sich auf andere Bereiche projizieren, was die Lokalisation erschwert. Nicht jeder Schmerz im Gesichtsbereich ist odontogenen Ursprungs!
1. Schritt: Die detaillierte Schmerzanamnese
Eine gründliche Befragung steht am Anfang jeder Diagnostik und liefert oft entscheidende Hinweise:
- Lokalisation: Wo genau tut es weh? Ist der Schmerz klar einem Zahn zuzuordnen oder eher diffus? Gibt es Ausstrahlung (Ohr, Schläfe, Nachbarzähne)?
- Charakter: Wie fühlt sich der Schmerz an? (Stechend, pochend, dumpf, ziehend, brennend, elektrisierend?)
- Intensität: Wie stark ist der Schmerz auf einer Skala von 0-10?
- Zeitlicher Verlauf: Seit wann bestehen die Schmerzen? Konstant oder intermittierend? Tageszeitliche Schwankung? Dauer der Schmerzepisoden? Nimmt der Schmerz zu?
- Auslöser (Provokation): Was löst den Schmerz aus oder verschlimmert ihn? (Kälte, Wärme, Süßes, Saures, Aufbiss, Berührung, Bücken, Körperlage?)
- Lindernde Faktoren: Was hilft gegen den Schmerz? (Kälte, Wärme, Schmerzmittel, Ruhe?) Verschwindet der Schmerz sofort nach Reizwegfall oder hält er an (lingering pain)?
- Spontanität: Tritt der Schmerz auch ohne erkennbaren Reiz auf? Weckt er den Patienten nachts? (Wichtige Hinweise auf Pulpitis!)
- Begleitsymptome: Schwellung, Rötung, Fistel, eingeschränkte Mundöffnung, Fieber, nasale Symptome, Kopfschmerzen?
- Vorgeschichte: Frühere Schmerzen oder Behandlungen am betroffenen Zahn/in der Region? Trauma?
2. Schritt: Die klinische Untersuchung
Systematische Untersuchung der betroffenen Region und der gesamten Mundhöhle:
- Inspektion (extra- & intraoral): Asymmetrien, Schwellungen, Rötungen, Fistelöffnungen, Zustand der Zähne (Karies, Füllungen, Kronen, Risse, Abrasionen), Gingiva/Parodontium.
- Palpation: Druckempfindlichkeit im Vestibulum (apikal!), am Kieferrand, der Kaumuskulatur, der Kiefergelenke. Lymphknotenstatus.
- Perkussionstest: Vertikales und horizontales Beklopfen des verdächtigen Zahnes und der Nachbarzähne. Empfindlichkeit deutet auf Entzündung im Parodont/Periapex hin.
- Mobilitätstest: Prüfung der Zahnbeweglichkeit.
- Sondierung: Parodontale Taschen messen, Füllungs-/Kronenränder prüfen, Karies sondieren (vorsichtig!).
3. Schritt: Gezielte klinische Tests
- Vitalitätstests (Entscheidend zur Pulpadiagnostik!):
- Kältetest (Standard): Applikation von Kältespray oder CO₂-Schnee auf den trockenen Zahn. Interpretation:
- Normale Reaktion: Kurzer, leichter Schmerz, verschwindet sofort nach Reizentfernung -> Pulpa vital, wahrscheinlich gesund/reversibel entzündet.
- Verlängerte, heftige Reaktion: Schmerz hält nach Reizentfernung deutlich an -> Hinweis auf irreversible Pulpitis.
- Keine Reaktion: Hinweis auf Pulpanekrose (immer im Vergleich zu Nachbar-/Kontralateralzähnen!).
- Überstarke, sofortige Reaktion: Kann auf reversible Pulpitis hindeuten.
- Elektrischer Pulpatester (EPT): Misst Reizschwelle der Nerven. Ergänzung zum Kältetest, liefert aber nur „vital“ oder „nicht vital“ Information, keine Aussage über Entzündungsgrad.
- Kältetest (Standard): Applikation von Kältespray oder CO₂-Schnee auf den trockenen Zahn. Interpretation:
- Spezialtests bei Verdacht:
- Biss-Test (z.B. FracFinder®): Patient beißt auf speziellen Keil -> Scharfer Schmerz beim Aufbeißen und/oder Loslassen deutet auf Fissur/Fraktur (Cracked Tooth Syndrome) hin.
- Transillumination: Durchleuchten des Zahnes mit starker Lichtquelle kann Risse sichtbar machen.
- Anfärben: Anfärben der Oberfläche kann Risse ebenfalls visualisieren.
4. Schritt: Radiologische Diagnostik
Unterstützt die klinische Diagnose, ist aber selten allein diagnostisch:
- Standard: Einzelzahnaufnahmen (rechtwinklig, ggf. exzentrisch) und/oder Bissflügelaufnahmen.
- Beurteilung: Interdentale/sekundäre Karies, Füllungs-/Kronenränder, Pulpanähe, periapikale Aufhellungen (Zeichen apikaler Parodontitis – oft erst nach einiger Zeit sichtbar!), Knochenniveau, Wurzelanatomie/-frakturen (selten direkt sichtbar).
- Ggf. OPG: Zur Übersicht, Beurteilung von Kieferhöhle, Kiefergelenk, größeren Läsionen.
- Ggf. DVT/CBCT: Bei komplexer Anatomie, V.a. Fraktur, unklaren periapikalen Befunden, Beziehung zu Nerv/Kieferhöhle.
5. Schritt (Ggf.): Diagnostische Anästhesie
- Prinzip: Selektive Betäubung eines Zahnes oder Nervenastes.
- Indikation: Wenn der Patient den Schmerz nicht exakt lokalisieren kann oder Ausstrahlung vermutet wird. Sistiert der Schmerz nach Anästhesie eines bestimmten Bereichs, ist die Ursache dort zu suchen.
6. Schritt: Differentialdiagnose – Nicht-odontogene Ursachen bedenken!
Wenn keine eindeutige dentale Ursache gefunden wird oder die Schmerzsymptomatik atypisch ist, MÜSSEN nicht-odontogene Ursachen erwogen werden! Wichtige Differentialdiagnosen sind:
- Muskuloskelettal: CMD, Myofaszialer Schmerz.
- Neurologisch: Trigeminusneuralgie, andere Neuralgien, Kopfschmerzsyndrome (Migräne, Cluster).
- HNO: Sinusitis maxillaris! Otitis.
- Andere: Kardial (selten!), psychogen, Tumoren etc.
Merke: „Nicht-odontogener Zahnschmerz“ – Schmerz wird im Zahn empfunden, Ursache liegt aber woanders!
Fazit: Systematik führt zum Ziel
Die Diagnostik von Zahnschmerzen erfordert ein systematisches, schrittweises Vorgehen, das die subjektive Schilderung des Patienten mit objektiven klinischen und radiologischen Befunden kombiniert. Eine detaillierte Anamnese und sorgfältige klinische Tests, insbesondere die Vitalitätsprüfung, sind oft wegweisend. Die Kenntnis wichtiger Differentialdiagnosen und die Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit bei unklaren Befunden sind unerlässlich, um Fehldiagnosen und unnötige Behandlungen zu vermeiden und dem Patienten effektiv zu helfen.
Quellen (konzeptionell):
- Leitlinien zur Diagnostik und Therapie pulpitischer und apikaler Erkrankungen: Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ) / Deutsche Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET). (Suche im AWMF-Portal oder auf DGZMK-/DGET-Website)
- Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Gesichtsschmerzen / CMD: DGZMK, Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT), Deutsche Schmerzgesellschaft (DGSS), Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN).
- Standardwerke der Endodontie, Oralen Diagnostik, Schmerzmedizin.
- Aktuelle wissenschaftliche Publikationen zur Schmerzdiagnostik in der Zahnmedizin.
- Bundeszahnärztekammer (BZÄK) / Landeszahnärztekammer Hessen (LZKH): Informationen zu Diagnostik und Behandlungsplanung.
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