9.1.1 Oralchirurgie (Fachzahnarzt für Oralchirurgie)
Ziel: Erwerb umfassender theoretischer Kenntnisse und praktischer Fähigkeiten auf dem Gebiet der zahnärztlichen Chirurgie, um komplexe operative Eingriffe im Zahn-, Mund- und Kieferbereich selbstständig planen und durchführen zu können.
Dauer & Struktur (Basis: MWBO)
- Regel-Gesamtdauer: Vier Jahre nach der Approbation.
- Aufteilung:
- Mindestens ein Jahr allgemeinzahnärztliche Tätigkeit (das „Allgemeinzahnärztliche Jahr“). Dieses muss häufig vor Beginn der fachspezifischen Weiterbildung nachgewiesen werden und kann oft während der Vorbereitungsassistenzzeit absolviert werden.
- Mindestens drei Jahre fachspezifische Weiterbildung in Oralchirurgie an zugelassenen Weiterbildungsstätten.
- Vollzeit: Die Weiterbildung erfolgt hauptberuflich und in Vollzeit.
- Teilzeit: Die meisten WBOs ermöglichen Teilzeit unter bestimmten Bedingungen (Antrag bei LZK erforderlich, Mindeststundenzahl, Verlängerung der Gesamtdauer).
- Weiterbildungsstätten: Zugelassene Universitätskliniken (MKG/Oralchirurgie), Krankenhäuser mit entsprechenden Abteilungen, ermächtigte Praxen. Oft wird eine Mindestzeit im stationären Bereich (Klinik) innerhalb der dreijährigen fachspezifischen Weiterbildung gefordert (das „Klinische Jahr“, meist 1 Jahr). Die LZKs führen Listen der zugelassenen Weiterbildungsstätten.
Inhalte (gemäß MWBO/WBO)
Die Weiterbildung vermittelt umfassende Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in folgenden Bereichen (Beispiele nach MWBO, Details im Katalog der jeweiligen WBO):
- Theoretische Grundlagen: Vertiefte Kenntnisse der chirurgisch relevanten Anatomie, Physiologie und Pathologie des Kopf-Hals-Bereiches; Pharmakologie (Antibiotika, Analgetika, Sedativa, Notfallmedikamente); Grundlagen der Anästhesiologie und Notfallmedizin; spezielle chirurgische Instrumentenkunde und Materialkunde (Nahtmaterialien, Osteosynthesematerialien, Membranen etc.); Grundlagen der Gerinnungsphysiologie und des Managements von Gerinnungsstörungen; spezielle Hygieneanforderungen in der Chirurgie; Strahlenschutz im OP-Bereich; Grundlagen der Onkologie und Traumatologie.
- Diagnostik: Erhebung spezieller chirurgischer Anamnesen; klinische Untersuchungsmethoden in der Oralchirurgie; Indikationsstellung und Interpretation bildgebender Verfahren (Röntgen, OPG, FRS, DVT, CT, MRT); Schleimhautdiagnostik; Grundlagen der Biopsie und Histopathologie.
- Lokalanästhesie: Durchführung aller gängigen intra- und extraoralen Leitungs- und Infiltrationsanästhesien; Management von Anästhesieversagern und Komplikationen (z.B. Nervläsionen, Intoxikationen, allergische Reaktionen).
- Sedierung & Narkose: Kenntnisse über verschiedene Sedierungsverfahren (oral, i.v.) und deren Indikationen/Kontraindikationen; Grundlagen der Intubationsnarkose und deren Management im zahnärztlichen Bereich; Management von Sedierungs-/Narkosezwischenfällen; interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Anästhesisten.
- Dentoalveoläre Chirurgie:
- Operative Entfernung retinierter, verlagerter und überzähliger Zähne (insbesondere Weisheitszähne).
- Chirurgische Zahnerhaltung: Wurzelspitzenresektion an Front- und Seitenzähnen (inkl. retrograder Aufbereitung und Füllung), Hemisektion, Prämolarisierung, intentionelle Replantation, chirurgische Kronenverlängerung.
- Operative Behandlung von Zysten (Zystektomie, Zystostomie) im Kieferbereich.
- Chirurgische Parodontaltherapie (Lappenoperationen, regenerative Verfahren – oft in Kooperation).
- Operative Freilegung von Zähnen zur kieferorthopädischen Einstellung.
- Transplantationen von Zähnen.
- Implantologie:
- Indikationsstellung, Diagnostik und Planung von Implantatversorgungen (inkl. Nutzung von Planungssoftware und Bohrschablonen).
- Insertion von enossalen Implantaten in verschiedenen Knochenangeboten und Regionen (ästhetische Zone, Seitenzahnbereich, zahnloser Kiefer).
- Freilegungsoperationen.
- Grundlagen der prothetischen Versorgung auf Implantaten (Abutmentwahl etc.).
- Augmentative Verfahren: Knochengewinnung und -transplantation (autolog, allogen, xenogen, alloplastisch); Techniken wie interner und externer Sinuslift, Bone-Splitting/-Spreading, lateraler Knochenaufbau mit Blöcken oder Schalen, Distraktionsosteogenese.
- Weichgewebsmanagement um Implantate (z.B. Vestibulumplastik, Bindegewebstransplantate).
- Diagnostik und Therapie von periimplantären Entzündungen (Mukositis, Periimplantitis – konservativ und chirurgisch).
- Management von implantologischen Komplikationen.
- Traumatologie: Diagnostik und Therapie von Zahnverletzungen (Kronen-, Wurzelfrakturen, Luxationen, Avulsionen – inkl. Schienung und ggf. endodontischer Versorgung); Versorgung von Weichgewebsverletzungen der Mundhöhle und des Gesichtsbereichs; Diagnostik und konservative sowie operative Therapie (Miniplattenosteosynthese, Schraubenosteosynthese) von Frakturen des Alveolarfortsatzes und einfacher Frakturen des Unter- und Mittelgesichtskiefers.
- Präprothetische Chirurgie: Chirurgische Maßnahmen zur Verbesserung des Prothesen- oder Implantatlagers: Mundvorhofplastik, Lippen-/Zungenbändchenkorrektur, Alveolarkammglättung, Tuberplastik, Exostosenabtragung, Schlotterkammentfernung, Vertiefung des Mundbodens.
- Infektionen: Diagnostik und chirurgische Therapie odontogener Infektionen: Inzision und Drainage von dentogenen Abszessen (submukös, submukoperiostal, logenübergreifend); Management von Phlegmonen; Grundlagen der Behandlung von Osteomyelitis und Kiefernekrosen (z.B. MRONJ/BRONJ).
- Tumorchirurgie: Diagnostik, Biopsie (Probeexzision, Inzisions-, Exzisionsbiopsie) und operative Entfernung gutartiger Tumoren und tumorähnlicher Läsionen (z.B. Fibrome, Papillome, Epulis) der Mundschleimhaut und der Kieferknochen. Früherkennung und Verdachtsdiagnostik maligner Tumoren und Einleitung der weiterführenden interdisziplinären Behandlung.
- Fehlbildungen & Kieferanomalien: Diagnostik und Mitwirkung bei der interdisziplinären chirurgischen Therapie (z.B. Entfernung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten-assoziierten Zysten, Mitwirkung bei Dysgnathie-Operationen).
- Erkrankungen der Kieferhöhle und Speicheldrüsen: Diagnostik und chirurgische Therapie odontogener Kieferhöhlenerkrankungen (z.B. operativer Verschluss von Mund-Antrum-Verbindungen, Entfernung verlagerter Zähne/Wurzelreste aus der Kieferhöhle); Diagnostik und Therapie von Speicheldrüsenerkrankungen (z.B. Entfernung von Speichelsteinen – Sialolithotomie, Behandlung von Entzündungen und Abszessen).
- Schmerztherapie & Nervverletzungen: Diagnostik orofazialer Schmerzen chirurgischer Ursache; Management von Verletzungen des N. alveolaris inferior und N. lingualis (Diagnostik, ggf. Mikrochirurgie – oft in spezialisierten Zentren).
- Management von Risikopatienten: Perioperative Betreuung und chirurgische Behandlung von Patienten mit relevanten Allgemeinerkrankungen (kardiovaskulär, Diabetes, Immunsuppression etc.) und unter spezifischer Medikation (Antikoagulantien, Bisphosphonate/Denosumab etc.).
Bürokratie & Ablauf
- Approbation & Allgemeinzahnärztliches Jahr: Nachweis erforderlich.
- Suche nach Weiterbildungsstelle(n): Bewerbung bei ermächtigten Kliniken UND/ODER Praxen gemäß den Anforderungen der lokalen WBO (Listen bei der LZK). Oft hohe Konkurrenz um Klinikstellen.
- Anmeldung bei der LZK: Meldung des Beginns der Weiterbildung und der Weiterbildungsstätte(n).
- Führen des Logbuchs (Testatheft): Sorgfältige und lückenlose Dokumentation aller geforderten Inhalte und Eingriffe gemäß dem Weiterbildungskatalog der LZK. Regelmäßige Bestätigung (Testate) durch die ermächtigten Weiterbilder.
- Weiterbildungsgespräche: Jährliche strukturierte Gespräche über den Fortgang der Weiterbildung.
- Zeugnisse: Qualifizierte Zeugnisse von allen Weiterbildungsstätten.
- Antrag auf Zulassung zur Prüfung: Nach Erfüllung aller Voraussetzungen bei der LZK.
Prüfung
Fachliches Gespräch (ca. 30-60 Min.) vor Prüfungsausschuss der LZK über das gesamte Gebiet. Bei Bestehen: Urkunde „Fachzahnarzt für Oralchirurgie“.
Unterschiede nach Bundesland (Stand: April 2025 – Prüfung der lokalen WBO unerlässlich!)
Die Struktur (1+3 Jahre, 1 Jahr Uni/Klinik Pflicht) ist bundesweit Standard. Die Liste der Kammerbereiche mit Links zu den WBOs bleibt wie in der vorherigen Antwort. Details können variieren.
- Baden-Württemberg (LZK BW): Quelle: LZK BW – Weiterbildung
- Bayern (BLZK): Quelle: BLZK – Weiterbildungsordnung
- Berlin (ZÄK Berlin): Quelle: ZÄK Berlin – Weiterbildungsordnung
- Brandenburg (LZKB): Quelle: LZKB – Weiterbildungsordnung
- Bremen (ZÄK HB): Quelle: ZÄK HB – Weiterbildungsordnung
- Hamburg (ZÄK HH): Quelle: ZÄK HH – Weiterbildung
- Hessen (LZKH): Quelle: LZKH – Weiterbildungsordnung
- Mecklenburg-Vorpommern (ZÄK MV): Quelle: ZÄK MV – Weiterbildungsordnung
- Niedersachsen (ZKN): Quelle: ZKN – Weiterbildungsordnung
- Nordrhein (ZÄK Nordrhein): Quelle: ZÄK Nordrhein – Weiterbildungsordnung
- Rheinland-Pfalz (LZK RLP): Quelle: LZK RLP – Weiterbildungsordnung
- Saarland (ZÄK Saarland): Quelle: ZÄK Saarland – Weiterbildung
- Sachsen (LZK Sachsen): Quelle: LZK Sachsen – Weiterbildungsordnung
- Sachsen-Anhalt (ZÄK SA): Quelle: ZÄK SA – Weiterbildungsordnung
- Schleswig-Holstein (ZÄK SH): Quelle: ZÄK SH – Weiterbildungsordnung
- Thüringen (LZK Thüringen): Quelle: LZK Thüringen – Weiterbildungsordnung
- Westfalen-Lippe (ZÄK WL): Quelle: ZÄK WL – Weiterbildungsordnung
Referenz MWBO: BZÄK – Weiterbildung.
=> Fazit Bundesland-Unterschiede: Die Struktur ist meist am 1+3 Jahre Modell der MWBO ausgerichtet. Immer die lokale WBO und deren Katalog konsultieren!
Finanzielle Aspekte
Einkommen während der Weiterbildung (4 Jahre):
- Status: Angestellte/r Weiterbildungsassistent/in.
- Vergütung Uni/Klinik: I.d.R. nach TV-Ärzte TdL/VKA (Entgeltgruppe Ä1, steigend). Transparent & geregelt. (Ressource: oeffentlicher-dienst.info – TV Ärzte).
- Vergütung Praxis: Stärker Verhandlungssache, kann am Klinikgehalt orientiert sein oder abweichen.
- Allgemein: Solides Angestelltengehalt, aber deutlich unter dem Potenzial als Fachzahnarzt.
Einkommenspotenzial nach der Weiterbildung (als Fachzahnarzt für Oralchirurgie):
- Als Angestellte/r: Deutlich über Weiterbildungsniveau, oft Grundgehalt + Umsatzbeteiligung.
- Als Niedergelassene/r: Höchstes Potenzial, aber unternehmerisches Risiko. Stark abhängig von Praxisstruktur, Standort, Leistungsspektrum (v.a. GOZ-Anteil durch Implantologie etc.).
Fazit Finanzen: Investition in eine gefragte Spezialisierung mit hohem Einkommenspotenzial, insbesondere bei Niederlassung. Während der Weiterbildung liegt der Fokus auf Kompetenzerwerb.
Alternativen & Abgrenzung zur formalen Weiterbildung
Diese Wege führen nicht zur Gebietsbezeichnung „Fachzahnarzt für Oralchirurgie“.
- Curricula (Strukturierte Fortbildungsserien):
- Konzept: Modulare Reihen (ca. 100-250+ Std.) mit Zertifikat.
- Anbieter & Beispiele: APW (Chirurgie/Implantologie), DGI, DGZI (Implantologie), LZK-Akademien (z.B. ZFZ Stuttgart, Pfaff Berlin, KHI NRW, ZANIS NDS, Karlsruhe), Private Institute.
- Status: Zertifikat, Kompetenzerwerb, Basis für TSP. Kein Fachzahnarzt.
- Masterstudiengänge (z.B. Master of Science – M.Sc.):
- Konzept: Berufsbegleitende, universitäre Studiengänge (4-6 Semester), akademischer Grad M.Sc., kostenintensiv.
- Anbieter & Beispiele (Fokus OCH/Implantologie): Uni Frankfurt, Uni Düsseldorf, Uni Bonn, Uni Greifswald, DIU Dresden, Uni Witten/Herdecke, IMC Krems etc. (Programme prüfen!).
- Status: Akademischer Grad M.Sc. Keine Fachzahnarztqualifikation nach deutscher WBO.
- Tätigkeitsschwerpunkt (TSP):
- Konzept: Ausweisung besonderer Expertise nach LZK-Richtlinien (Fortbildung + Fallzahlen).
- Voraussetzungen: Regeln der lokalen LZK prüfen.
- Status: Signal für Fokus. Kein Fachzahnarzt-Titel.
Fazit zu Alternativen: Wertvolle Instrumente zur Vertiefung von Wissen, ersetzen jedoch nicht die formale Weiterbildung zum Fachzahnarzt nach WBO hinsichtlich Status und berufsrechtlicher Anerkennung.