I. Einleitung: Was sind Leitlinien und warum sind sie wichtig?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
in unserem Bestreben, Patienten stets die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen, stehen wir oft vor der Frage: Welches Vorgehen ist in dieser spezifischen klinischen Situation das richtige oder das am besten belegte? Hier kommen medizinische Leitlinien ins Spiel.
Was sind Leitlinien?
- Leitlinien sind systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte und Zahnärzte. Sie bündeln das aktuelle wissenschaftliche Wissen und die Erfahrung von Experten zu bestimmten Themen (z.B. Diagnostik und Therapie einer Krankheit).
- Sie werden von wissenschaftlichen Fachgesellschaften (wie der DGZMK und ihren Spezialgesellschaften) oft in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen entwickelt.
- Der Entwicklungsprozess, besonders bei hochwertigen S3-Leitlinien, ist sehr strukturiert und basiert auf einer kritischen Bewertung der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur (Evidenz) und einem strukturierten Prozess zur Einigung von Expertenmeinungen (Konsens). Was sind Leitlinien NICHT?
- Sie sind keine Gesetze oder Richtlinien im rechtlichen Sinne (wie z.B. die G-BA-Richtlinien für PAR oder ZE im GKV-Bereich). Sie sind in der Regel nicht rechtsverbindlich.
- Sie sind keine starren Kochbücher. Sie sollen Orientierung geben, aber die individuelle klinische Entscheidung unter Berücksichtigung der spezifischen Patientensituation, der Patientenpräferenzen und der Praxisausstattung bleibt immer beim Behandler. Eine gut begründete Abweichung von einer Leitlinie ist möglich und manchmal sogar notwendig. Warum sind sie trotzdem wichtig?
- Orientierung & Entscheidungshilfe: Sie helfen, im Dschungel der Informationen den Überblick zu behalten und fundierte Entscheidungen zu treffen.
- Qualitätssicherung: Sie tragen dazu bei, die Qualität der Versorgung auf einem hohen Niveau zu standardisieren.
- Wissensbasis: Sie fassen den aktuellen Stand der Wissenschaft zusammen („State of the Art“).
- Haftungsrelevanz: Obwohl nicht rechtsverbindlich, können Leitlinien im Haftungsfall als Maßstab herangezogen werden, was zum Zeitpunkt der Behandlung als anerkannter Standard galt. Eine unbegründete Abweichung kann als Sorgfaltspflichtverletzung gewertet werden.
- Argumentationshilfe: Sie können helfen, Behandlungsentscheidungen gegenüber Patienten oder Kostenträgern zu begründen. Wo finde ich sie?
- Die zentrale Anlaufstelle in Deutschland ist das Register der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) unter www.awmf.org. Hier sind Leitlinien verschiedener Fachrichtungen und Entwicklungsstufen (S-Klassen) veröffentlicht. Wichtig: Immer auf die Aktualität und Gültigkeit achten! Leitlinien haben ein „Ablaufdatum“.
II. Übersicht relevanter Leitlinien-Themen nach Fachbereichen
(Hinweis: Dies ist eine Auflistung von Themenfeldern, zu denen wichtige Leitlinien existieren oder existierten. Für aktuelle, gültige Leitlinien und deren Details bitte immer das AWMF-Register prüfen!)
1. Prävention & Dentalhygiene
* Kariesprophylaxe bei bleibenden Zähnen (inkl. Fluoridanwendung)
* Kariesprophylaxe bei Milchzähnen / Frühkindliche Karies (ECC)
* Fissurenversiegelung (bleibende Zähne / Milchzähne)
* Fluoridierungsmaßnahmen (lokal, systemisch)
* Häusliches chemisches Biofilmmanagement / Mundspüllösungen
* Ernährungsberatung zur Karies- und Erosionsprophylaxe
2. Zahnerhaltung (Konservierende Zahnheilkunde & Endodontie)
* Kariesmanagement (Diagnostik, Exkavationstechniken)
* Management von Dentinhypersensibilität
* Diagnostik von Pulpa- und periapikalen Erkrankungen
* Dentales Trauma (Diagnostik, Therapie)
* Endodontische Behandlung (Aufbereitung, Desinfektion, Obturation) – oft Orientierung an ESE-Leitlinien
* Postendodontische Versorgung (Stift, Krone?)
3. Parodontologie
* Klassifikation von Parodontal- und periimplantären Erkrankungen (basierend auf 2017 Klassifikation)
* Diagnostik von Gingivitis und Parodontitis
* Behandlung von Gingivitis
* Systematische Behandlung von Parodontitis Stadium I-III (oft basierend auf EFP S3-Leitlinie)
* Unterstützende Parodontitistherapie (UPT)
* Behandlung von Parodontitis Stadium IV
* Behandlung akuter parodontaler Zustände (Abszess, NUG/NUP)
* Behandlung von Gingivarezessionen
* Behandlung von periimplantärer Mukositis und Periimplantitis
* Adjuvante systemische Antibiotikagabe in der Parodontitistherapie
4. Prothetik (Zahnersatz)
* Versorgung mit festsitzendem Zahnersatz bei zahnbegrenzten Lücken
* Behandlung des zahnlosen Kiefers (Totalprothetik)
* Vollkeramische Restaurationen (Indikationen, Materialien, Befestigung)
* Postendodontische Versorgung (siehe Zahnerhaltung)
* Versorgung mit herausnehmbarem Zahnersatz
* Diagnostik und Behandlung von Prothesenstomatitis
* Temporäre Versorgungen
* **Hinweis zur Prothetik:** Auch wenn die Prothetik ein riesiges Fachgebiet ist, gibt es möglicherweise weniger spezifische, hochgradige Leitlinien für jeden einzelnen Arbeitsschritt als in anderen Bereichen. Das liegt daran, dass prothetische Lösungen extrem individuell sind und stark von Patientenfaktoren, Materialentwicklungen und zahntechnischen Möglichkeiten abhängen. Viele Entscheidungen basieren auf etablierten biomechanischen und materialkundlichen Prinzipien sowie klinischer Erfahrung. Die genannten Leitlinien decken jedoch wichtige Kernbereiche und Indikationsstellungen ab. Überschneidungen gibt es z.B. mit der Implantologie oder der postendodontischen Versorgung.
5. Orale Chirurgie & Implantologie
* Operative Entfernung von Weisheitszähnen
* Wurzelspitzenresektion
* Diagnostik und Behandlung odontogener Infektionen
* Zahnärztliche Chirurgie bei Risikopatienten (Antikoagulantien, Antiresorptiva/MRONJ, Endokarditisrisiko, Bestrahlung/ORN, etc.)
* Dentale Implantologie (Indikationen, Diagnostik, Chirurgie, Augmentation)
* Management von Blutungen
* Antibiotika-Einsatz/Prophylaxe (über Endokarditis hinaus)
6. Kinderzahnheilkunde
* Management von Karies (Milch-/Wechselgebiss)
* Fissurenversiegelung
* Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH)
* Management von dentalem Trauma (Milch-/Wechselgebiss)
* Sedierung und Narkose
7. Funktionsdiagnostik & -therapie (CMD)
* Diagnostik von CMD (oft basierend auf DC/TMD)
* Management von Bruxismus
* Schienentherapie
8. Übergreifende Themen / Schnittstellen
* Diagnostik und Therapie der Halitosis
* Management dentaler Notfälle
* Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen / besonderen Bedürfnissen
Fazit zur Übersicht:
Leitlinien sind ein unverzichtbares Instrument für eine moderne, wissensbasierte Zahnmedizin. Diese Übersicht zeigt die Bandbreite der Themen. Es lohnt sich, die für den eigenen Tätigkeitsschwerpunkt wichtigsten Leitlinien zu kennen und das AWMF-Register als Nachschlagewerk zu nutzen.
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